Sturmzeit

Vor etwa einem Jahr hatte mein Sohn seinen ersten Tag im Kindergarten. Er freute sich darauf. Und ich freute mich für ihn, weil ich merkte, dass er mehr brauchte, als den ganzen Tag nur mit mir und seiner Schwester zu verbringen. Er hatte einen großen Bewegungsdrang und übermächtigen Wissensdurst. Dinge, die ich nicht mehr ausreichend erfüllen konnte, seit ich mich um noch ein kleines Menschenkind kümmern musste. Drei Jahre lang war er so gut wie immer bei mir. Für mich gab es nichts wichtigeres, als ihm diese Zeit mit mir zu schenken, denn gerade in den ersten Jahren brauchen Kinder doch so viel von ihren Eltern. Die Abnabelung fiel mir zunächst deutlich schwerer als ihm. Er konnte es kaum erwarten, die Welt ein Stück weit ohne mich zu entdecken und stürzte sich mit großer Freude in die Kindergartenzeit.

Doch nach etwa zwei Wochen ließ diese Freude nach. Plötzlich wurde ihm bewußt, dass etwas für ihn völlig Selbstverständliches nun nicht mehr ständig da ist: Seine Mama. Wenn es morgens Zeit für den Abschied war, klammerte er sich schreiend an mir fest. Die Erzieherinnen rissen ihn förmlich von mir los und sagten mir, ich solle so schnell wie möglich gehen. Das brach mir das Herz. Und es änderte sich auch nach einigen Tagen nicht, bis ich meinen Mann schließlich bat, ihn in den Kindergarten zu bringen. Und das funktionierte tatsächlich besser. Es fiel ihm offenbar etwas leichter, sich von Papa zu lösen. Und als ich nach ein paar Tagen diese Aufgabe wieder übernahm, ging auch das wieder etwas leichter. Sobald ich weg war, vertiefte er sich schnell ins Spiel und vergass seinen Trennungsschmerz.

Doch es veränderten sich noch andere Dinge. Bisher war er nämlich immer ein absolutes Papakind. Jedoch begann dann eine Phase, in der er von Papa gar nichts mehr wissen wollte und er klammerte sich stattdessen an mich, suchte ständig meine Nähe und Zuneigung, wo er sonst eigentlich eher ungern kuschelte. Er sagte mir auch andauernd, wie lieb er mich hat und dass er mich immer furchtbar vermisst, wenn er im Kindergarten ist – auch wenn es ihm eigentlich dort gefällt und er auch schon Freunde gefunden hatte. Aber schöner wäre es, wenn ich bei ihm wäre. Das alles war zwar nicht ganz einfach – aber dass die Umstellung ihm zu schaffen machen würde, damit war in gewisser Weise zu rechnen. Doch das waren nur die Vorboten, die uns einen kleinen Einblick in sein Innerstes verrieten.

Ein Sturm brauste auf

Wenige Wochen später trafen uns seine Emotionen mit voller Wucht. Er war plötzlich sehr wütend. Und damit meine ich nicht die typischen Wutausbrüche, die jedes Kleinkind durchlebt. Nein, es war viel mehr als das.

Wut war schon immer etwas, womit er stark zu kämpfen hatte. Es fing schon sehr früh an, mit knapp über einem Jahr, dass er vor Wut nicht einfach mit den Füssen trampelte oder sich auf den Boden warf – nein, er schlug seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Wand oder auf den Boden. Mir machte dieses Verhalten damals schon Angst und ich sprach mit dem Kinderarzt darüber. Er sagte, dass dieses Verhalten nicht normal sei, doch dass manche Kinder eben sehr extrem sind in ihrer Wut – ich sollte nur darauf achten, dass sich nicht selbst verletzt. Eine andere Antwort bekam ich nicht.

Irgendwann beruhigte sich alles wieder, abgesehen von kleineren Wutanfällen. Als seine Schwester zur Welt kam, spürte man jedoch, dass diese krasse Veränderung ihm zu schaffen machte. Seine Wutausbrüche wurden häufiger, extremer, langanhaltender. Hinzu kam Zerstörungswut. Es war verständlich, dass er diesen großen Einschnitt ins Leben und seine Entthronung verarbeiten musste, auch wenn er offenbar total verliebt war in seine kleine Schwester. Das große Problem für uns bestand jedoch darin, dass jeder Beruhigungsversuch scheiterte. Doch nach etwa drei Monaten hatte er es überstanden und war wieder zufrieden mit sich und der Welt.

Danach dachte ich erleichtert, dass wir die schwierigste Zeit nun sicher überstanden haben.

Ich rechnete jedoch nicht damit, dass der Kindergarten ihn so aus der Bahn werfen würde. Und nun standen wir plötzlich da, in einem Wutsturm, der nicht enden wollte und der gepaart war mit Zerstörungswut und Aggressivität. Ja – von einem Tag auf den anderen wurde er sofort aggressiv, wenn ihm nur eine Kleinigkeit nicht in den Kram passte. Er fing an zu schlagen – immer und immer wieder. Er warf Dinge um sich, schmiss Stühle um oder irgendetwas anderes, das ihm in die Quere kam – und er schrie und schrie und schrie. Manchmal schrie er zwei Stunden lang und es gab nichts, rein gar nichts, was ich dagegen tun konnte. Seine Wut richtete sich meistens gegen mich. Doch hin und wieder bekam auch seine Schwester etwas ab, wenn sie gerade zur falschen Zeit am falschen Ort war. Manchmal blieb mir nicht anderes übrig, als die Kleine zu nehmen und uns „in Sicherheit“ zu bringen. Denn versuchte ich ihn zu beruhigen, wurde seine Wut nur noch stärker. Er will in solchen Momenten nicht angefasst werden, er will nicht, dass man mit ihm redet. All das verschlimmert seine Wut.

Und irgendwann wurde auch ich wütend. Ich schaffte es nicht mehr, ruhig und gelassen zu bleiben, weil mit jedem seiner Wutausbrüche mein Nervenkostüm dünner und dünner wurde. Schließlich war ich an dem Punkt, an dem auch ich nur noch schrie. Obwohl mir klar war, dass ich es dadurch nur noch schlimmer machte, schrie ich ihn an, weil ich mich hilflos fühlte. Ich wusste nicht mehr ein noch aus und war nicht mehr in der Lage, mit dieser Situation umzugehen. Wie oft trat mein Mann dann als Schlichter ein. Wie oft rettete er die Situation, als ich nur noch heulend in der Ecke saß. Und dazwischen saß immer noch dieses kleine Mädchen, dass all das ebenfalls ertragen musste. Ich war mit meinen Nerven absolut am Ende und es war kein Ausweg in Sicht.

Was war ich nur für eine Mutter, die nicht in der Lage war, ihr Kind zu verstehen und es aus seinem Wutkreislauf zu befreien? Was war ich für eine Mutter, die morgens nicht mal mehr Lust hatte aufzustehen, die nur noch schlecht gelaunt war? Was war ich nur für eine Mutter, die ihr Kind anmotzte, obwohl es gerade doch so viel Liebe brauchte?

War es wirklich das, woran ihm mangelte? Das fragte ich mich oft. Aber gerade in dieser so schwierigen Zeit, bekam er gleichzeitig doch so viel, denn in den ruhigen Momenten war er doch fast schon mit mir verschmolzen. Aber ich denke er spürte, wie es mir damit ging. Und mir ging es nicht gut. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, stand ich wohl kurz vor einem Burnout. Es fehlte nur noch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde.

Aber so weit wollte ich es nicht kommen lassen. Ich wollte nicht, dass es so weitergeht. Ich wollte so nicht sein. Ich will meinen Kindern eine gute Mutter sein. Die beste Mutter, die sie sich nur wünschen könnten. Ich wusste, es musste sich etwas verändern. Ich wusste, dass ich das allein nicht schaffen kann. Ich wusste, was wir brauchen.

Hilfe

Das war eine wichtige Erkenntnis. Wir brauchten Hilfe. Ich brauchte Hilfe, damit alles wieder ins Lot kommt. Ich sprach mit dem Kindergarten. Ich sprach mit dem Kinderarzt. Ich bat um eine Überweisung zum SPZ, die er mir jedoch nicht geben wollte. Er verwies mich stattdessen an eine Beratungsstelle. Ich hatte mir zwar etwas anderes erhofft, griff aber dennoch nach diesem Strohhalm. Denn ich war mir nicht sicher, was passiert, wenn nicht bald etwas passiert.

Ich bekam recht schnell einen Termin für ein Erstgespräch in der Beratungsstelle, in dem ich die ganze Situation erklärte. Schon dort kam ich zu der Erkenntnis, dass nicht mein Sohn sein Verhalten ändern muss – weil er in seinem Alter noch nicht in der Lage dazu sei, die Wut zu verarbeiten – sondern dass ich meine Art damit umzugehen ändern muss. Ich muss meine Einstellung und Denkweise korrigieren. Bisher dachte ich immer, da er doch so schlau und alles andere als auf den Kopf gefallen ist, dass er doch verstehen müsste, dass er mit seiner Wut bei uns nicht weiterkommt. Heute weiß ich, dass ich das falsch gesehen habe.

Mir wurde erklärt, dass das kindliche Gehirn gerade in Stresssituationen vorwiegend von der rechten Gehirnhälfte gesteuert wird. Die linke Gehirnhälfte ist dann quasi abgeschaltet, und daher ist ein Kind in solch einem Moment mit Worten nicht zu erreichen. Jedoch kann die Mimik, Gestik und der Tonfall der Stimme dem Kind dabei helfen, sich zu regulieren, denn diese Signale erreichen es auch während eines Wutanfalls. Ein Kind lernt seine Gefühle erst zu kontrollieren, wenn alle Gehirnteile miteinander zusammenarbeiten. Das passiert in der Regel zwischen dem vierten und siebenten Lebensjahr.

Da saß ich nun mit dieser Erkenntnis. Mir war das völlig neu. Ganz abgesehen davon, habe ich auch gelernt, dass ich mehr auf mich selbst achten muss, damit ich in stressigen Momenten gelassener reagieren kann. Stress abbauen, sich Auszeiten gönnen, öfter singen oder andere Dinge tun, die den Kopf frei machen. Die Beraterin legte mir auch eine Mutter-Kind-Kur nahe, doch schon der Gedanke daran, solch eine lange Zeit ohne meinen Mann und allein mit den Kindern zu verbringen, verursachte nur noch mehr Stress in mir.

Allein dieses eine Gespräch hat für mich eine Menge verändert. Es tat gut, mit jemandem zu reden, der völlig unvoreingenommen ist, der meine Gefühle und Sorgen versteht und akzeptiert, ohne mich anzuklagen, der mir praktischen Rat gibt, der einfach und effektiv umzusetzen ist.

Mit neu geordneten Gedanken ging ich Heim und unternahm gleich erste Schritte. Bis zum nächsten Beratungsgespräch würden leider ein paar Monate vergehen, denn die Warteliste ist lang. Trotzdem gab es schon genügend Ansatzpunkte, um etwas zu verändern.

Das war nicht immer einfach, denn die Wutstürme ließen nicht von einen auf den anderen Tag nach. Noch oft wurde mein Sohn davon überrollt, wie von einer Welle, aufgepeitscht durch den Sturm.

Erste Schritte

Wir hängten einen Boxsack in sein Kinderzimmer, an dem er sich auslassen konnte, wenn er nicht wusste, wohin mit seiner Wut. Das klappte zwar oft nicht wie gedacht, manchmal jedoch schon. Und auch zwischendurch benutzten wir ihn einfach, um mal ein bisschen Dampf abzulassen. Auch hatte ich zwei Kissen für ihn nähen lassen – eines, in das er seine Wut hineinschreien kann, das andere zum Trösten, wenn er traurig ist, in Momenten, in denen er keine körperliche Nähe duldet. Ich habe auch zwei ganz tolle Bücher gefunden, die ihm dabei halfen, seine Gefühle besser kennenzulernen und zu verstehen.

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In Situationen, die vorhersehbar sind, treffen wir nun immer Absprachen. Zum Beispiel gab es bei uns eine immer wiederkehrende Situation: wenn wir Besuch hatten und dieser sich an der Tür verabschiedete, rannte mein Sohn jedes Mal aus der Tür und war weg. Er lief einfach die Straße entlang und verschwand um die Ecke. Heute besprechen wir immer vorher, dass er nicht weglaufen soll – und siehe da: Es funktioniert! Und das in vielen Situationen. So einfach kann es sein. Wir sind nur nicht drauf gekommen.

Vor allem aber habe ich viel mehr mit meinem Sohn geredet, ihm zugehört. Nach jedem Wutsturm sprachen wir über das, was gerade passiert war, eng aneinander gekuschelt. Das half uns beiden. Ihm tat es auch jedes Mal Leid, wenn er mich geschlagen hatte und entschuldigte sich dafür. Er sagte dann oft, er wüsste auch nicht, warum er das macht. Er würde es selbst nicht verstehen.

Doch irgendwann sagte er plötzlich, dass ein Kind aus dem Kindergarten ihn auch immer schlägt. Ich sprach mit dem Kindergarten darüber und schließlich löste sich diese Situation. Kurz darauf sagten die Erzieherinnen mir, dass mein Sohn im Kindergarten nun total ruhig und ausgeglichen sei. Zuvor war er scheinbar immer rastlos, konnte sich nie lange auf eine Sache konzentrieren.

Als unsere Familienberatung endlich losging, hatten wir das Schlimmste schon fast überstanden. Ich habe die Gelegenheit trotzdem wahrgenommen, denn ich war immer auf der Suche nach einer Antwort für sein Verhalten. Ich las viel nach, über Hochsensiblität, ADHS, Hochbegabung, auch über Autismus. Tatsächlich deuten viele Verhaltensweisen auf Hochbegabung oder Hochsensiblität hin. Und ich dachte, wenn wir die Gewissheit hätten, könnten wir ihm doch sicherlich viel besser helfen. Vor allem wollte ich diese Antwort aber für mich haben, für mein Gefühl. Damit ich all das besser verstehen kann.

Die Beraterin besuchte ihn im Kindergarten und beobachtete ihn dort im Umgang mit den anderen Kindern. Auch gab es eine Familiensitzung. Und tatsächlich bestätigte sie, dass er ein „besonderes“ Kind ist, das zu viel nachdenkt, dessen Kopf ständig rattert, egal was er tut, ob er nun hochsensibel oder was auch immer ist, sei mal dahingestellt. Sie riet uns dazu, mit ihm viel mehr Dinge zu tun, bei denen er nicht so viel nachdenken kann – rennen, toben, kitzeln, herumalbern. Er braucht viele solcher Momente, in denen er sich frei machen kann von seinen Gedanken.

Wo Schatten ist, ist auch Licht

Eine Antwort habe ich nicht erhalten. Aber die brauche ich heute auch nicht mehr.

In den letzten Monaten hat sich vieles zum Positiven verändert. Die Wutstürme sind seltener geworden, sie verlieren schneller an Kraft. Mein Kind hingegen ist stärker geworden, man merkt, dass es ihm inzwischen schon manchmal gelingt, sich selbst zu regulieren. Oder er schafft es, besser auf unsere Beruhigungsversuche zu reagieren. Die Aggressionen sind kaum noch vorhanden. Und falls doch, werden sie nicht mehr an uns ausgelassen. Uns fällt auch auf, dass er oft nachdenkt, bevor er handelt.

Und ich? Mir gelingt es viel besser gelassen zu bleiben. Es war, als wäre ein Schalter in mir umgelegt worden. Klar – manchmal falle ich wieder in den Motzmodus zurück. Davon kann sich wohl niemand freisprechen. Vor allem nicht, in sehr stressigen Phasen.

Wichtig ist, dass wir nie aufhören, aneinander und miteinander zu arbeiten. Nur so können wir wachsen und zusammenwachsen. Nur so kann das Band zwischen uns immer stärker werden, damit es niemals zerreißt.

Ich bin heute sehr froh darüber, Hilfe in Anspruch genommen zu haben und ich kann nur jedem dazu raten, der das Gefühl hat, dass ihm gerade alles über den Kopf wächst, sei es in Bezug auf die Kinder oder einfach in Bezug auf sich selbst. Achtet auf Euch und Eure Gefühle, damit sie Euch nicht wie eine Welle überrollen in stürmischen Zeiten.

4 Gedanken zu “Sturmzeit

  1. Danke, meine Liebe! Es ist gut, dass es aus fast jeder schwierigen Situation einen Ausweg gibt. Man darf nur nie aufgeben oder damit aufhören, nach neuen Wegen zu suchen.

    Ich hoffe, es geht Dir gut. 😘 Liebe Grüße, Nadine

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